Die Leisniger Kastenordnung

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blau eingefärbtes Bild, weiße Sprechblase mit "Heute vor 500 Jahren"

Heute vor 500 Jahren ...

… entstand die Leisniger Kastenordnung, die mit Luthers Unterstützung zu einem Grundstein des heutigen Sozialstaats wurde.

 

Ein Rat sucht Rat

Es war kein Zufall, dass sich die Bürger von Leisnig ausgerechnet an Martin Luther wandten. Die rund 40 Kilometer südöstlich von Leipzig gelegene Stadt an der Mulde gehörte zu den ersten Städten, die die Reformation eingeführt hatten. Bereits 1519, noch bevor Luther von Kaiser und Papst für seine Thesen zur Rechenschaft gezogen wurde, hielt man in Leisnig die ersten evangelischen Predigten. Nun versuchte der Rat, die politischen Folgen der Reformation in geregelte Bahnen zu lenken. Denn es zeigte sich, dass die von Luther angestoßene theologische Neuordnung des Jenseits ganz praktische Probleme im Diesseits nach sich zog.

 

Neue Zuständigkeiten

Besonders deutlich wird dies am Beispiel der vielen Bettelnden, die die öffentlichen Straßen und Plätze bevölkerten. Armut an sich war im Mittelalter keine Schande – ganz im Gegenteil: Aus christlicher Sicht waren Bettelnde Teil der göttlichen Ordnung; Luther selbst hatte viele Jahre als Bettelmönch gelebt. Sein Orden, die Augustinereremiten, hatten Armut und Brüderlichkeit zum christlichen Ideal erhoben. Schließlich boten Mittellose ihren Mitmenschen die Möglichkeit, Almosen zu geben und sich damit nach dem Tod qualvolle Jahre im Fegefeuer zu ersparen. Der Nutzen beruhte also auf Gegenseitigkeit, die Schar der Bettelnden war auf diese Weise gut versorgt.

Mit seiner Theologie schuf Luther eine neue Weltsicht, nach der die Gnade Gottes nicht mehr mit guten Taten erkauft werden konnte. Damit entzog er Bettelnden die Existenzgrundlage und machte sie zu einem Versorgungsproblem der Städte.

 

Eine frühe Sozialversicherung

Bereits vor der Reformation gab es in einigen Städten Bestrebungen, einen „Gemeinen Kasten“, eine Art Sozialkasse einzurichten, die Arme, Kranke und Bedürftige versorgte. Mit der Reformation wurde die sprunghaft steigende Zahl von Bedürftigen zum drängenden Problem. Gleichzeitig tat sich aber auch eine Lösung auf: Denn durch die Auflösung der Klöster, dem Verkauf von Kirchengütern und die Einnahmen aus Grundbesitz und Vermögen wurden Gelder frei, die nun neu verteilt werden konnten. Damit bekam die Idee des Gemeinen Kastens eine tragfähige Basis.

Die Leisniger Ratsherren luden Luther mehrfach ein, um mit ihm zu beraten, nach welchen Regeln die Gelder umverteilt werden sollten. Es ging dabei um weit mehr als um die Finanzierung der Bettelnden und Bedürftigen. Es ging darum, den Geist der Reformation in ein ethisches Regelwerk zu bringen, das den Gemeinden als neue Sozialordnung diente.

 

Die Abschaffung von Armut

Mit den Geldern des Gemeinen Kastens sollten Kirchengebäude unterhalten, Pfarrer, Kirchenangestellte und Lehrer bezahlt werden. Dafür schaffte man das Schulgeld ab, so dass Bildung nicht länger ein Privileg von Bessergestellten war. Auch Mädchen sollten zur Schule gehen, für den Unterricht sollte eigens eine „betagte Weibsperson“ eingestellt werden. Mit Bildung und Arbeit wollte man Bettelnde in das Wirtschaftsleben der Stadt integrieren. Nur wer nach strenger Bedürftigkeitsprüfung nicht in der Lage war zu arbeiten, erhielt Geld aus dem Gemeinen Kasten. Und schließlich verbot die Leisniger Kastenordnung im Pfarrbezirk jegliche Bettelei.

 

Gut geschützt - für alle sichtbar

Der Kasten stand für alle sichtbar in der Kirche und war mit vier verschiedenen Schlössern gesichert. Die Schlüssel gab man je vier gewählten Vorstehern, die regelmäßig Rechenschaftsberichte anfertigen mussten. Eine transparente Buchführung und das Mehraugenprinzip schützte das Geld gegen unerlaubte Zugriffe.

Allerdings hatten die Leisniger die Rechnung ohne ihren Kurfürsten gemacht. Als Landesherr musste er ein solches Regelwerk offiziell bestätigen, was er nie tat. Ohne eine gültige Rechtsgrundlage weigerte sich wiederum der Leisniger Rat, die von ihm verwalteten Gelder in den Gemeinen Kasten zu geben.

 

Zum Scheitern verurteilt?

Dass die Leisniger Kastenordnung trotz kurfürstlicher Blockade zu einer Erfolgsgeschichte wurde, ist Luther zu verdanken. Er schrieb ein vierseitiges Vorwort für das Regelwerk der Leisniger und ließ es in Wittenberg drucken. Die aufgestellten Grundsätze zur Sozialfürsorge wurden zum Vorbild entsprechender Ordnungen in vielen anderen Städten. Heute gilt die Leisniger Kastenordnung als erste evangelische Kirchenordnung.

 

Der Wortlaut der Leisniger Kastenordnung von 1523 und das Vorwort von Martin Luther sind zu finden unter archive.org.